True Crime ist in den letzten Jahren noch beliebter geworden. Woher kommt die Faszination und was ist problematisch an den Formaten? Ein Kommentar von Lene Schargitz
Schließen Sie einmal die Augen (bitte tun Sie es nicht wirklich, dieser Text wird ab hier nicht zum Podcast) und denken an Sendungen, die mit dem deutschen Fernsehen fest verbunden sind. Ich sehe Politiktalkshows, „Tatort“ und „Aktenzeichen XY… ungelöst“. Verbrechen an meinen Nerven, der Mord zum Sonntag und True Crime. Vergehen, der Modus Operandi einer durchschnittlichen Fernsehwoche.
Scheinbar ist True Crime erst in den letzten Jahren, besonders durch diverse Podcasts, im Mainstream angekommen. Wikipedia meint dagegen, das Genre sei bereits ab Mitte des letzten Jahrhunderts populär geworden. Wirklich? „Aktenzeichen XY… ungelöst“, der einzig wahre deutsche Exportschlager, wurde 1967 erstmals ausgestrahlt. Das würde immerhin passen. Aber Jack the Ripper fasziniert seit dem 19. Jahrhundert. Und der Mord an Martha Ray, Mätresse des vierten Earl of Sandwich (genau der, nachdem das Sandwich benannt wurde), war 1779 ein großes Thema der englischen Zeitungen. Der französische Jurist François Gayot de Pitaval sammelte in den 30er und 40er Jahren des 18. Jahrhunderts Kriminalfälle, die eigentlich für ein Fachpublikum gedacht waren – und schließlich zum noch heute beliebten Genre „Pitaval“ wurden. Und bereits 200 Jahre davor wurden in Deutschland Flugblätter verteilt, welche Verbrechen und Hinrichtungen beschrieben. Schon damals wurden diese aufbereitet, um die emotionale Wirkung zu steigern. Nach diesem kleinen Exkurs halten wir fest: True Crime fasziniert die Menschen schon lange. Sollte es True Crime in Form von ägyptischen Hieroglyphen geben, es würde mich nicht wundern.
Woher kommt die freiwillige Beschäftigung mit dem Verbrechen. Ich frage zuerst eine Freundin, die ich als – no pun intended – eingefleischten True-Crime-Fan kenne. Da die Fälle vom eigenen Leben so weit entfernt seien, empfinde sie diese als mysteriös. Diese Unvorstellbarkeit mache die Geschichten spannend. Und eben auch, dass sie wirklich in der Realität passiert sind.
Sabine Rückert, die Grande Dame deutscher True-Crime-Podcasts, erklärt die Faszination mit Wohlstand und Sicherheit. Diese würden es uns erlauben, über die Abgründe des Menschen nachzudenken. Andere geben an, dass sie die gesellschaftlichen Zusammenhänge interessiert und die Frage: Wie konnte es dazu kommen?
Inszenierung von True-Crime-Formaten (Symbolbild)
Machen wir uns nichts vor: Krimis sind spannend, egal ob fiktiv oder nicht. Die typischen True-Crime-Dokus der Streaming-Plattformen bauen Spannung auf, sie folgen einem Schema F. Die Verwendung von Titeln, die Sitzpositionen der Interviewten und der Einsatz von Musik sind häufig sehr ähnlich. Einmal darauf geachtet, kann man es nie mehr nicht sehen. Auch die Intros sind teilweise nicht mehr von fiktiven Serien zu unterscheiden. Das alles führt sicherlich auch dazu, dass die Öffentlichkeit Hannibal Lecter und reale Täter als austauschbar wahrnimmt.
Spielfilme sind dann noch zusätzlich problematisch. Die Dialoge müssen oft erfunden werden, denn mit Sicherheit lief nicht dauerhaft ein Aufnahmegerät. Manchmal werden die Täter:innen als liebenswürdige Partner:innen oder nette Nachbarn dargestellt. Und dann werden sie zum Beispiel von Schauspieler:innen verkörpert, die das Publikum als sympathisch und positiv wahrnimmt. Was wiederum zu einer wohlwollenden Grundhaltung gegenüber den Figuren führt, sodass ein Interesse an den Schauspieler:innen die Frage nach den Auslösern für das Verhalten der Täter:innen überdecken kann. Das war’s dann also mit dem Nachdenken über gesellschaftliche Probleme. Die Täter:innen werden weiter abgekultet, die nächste Runde Onlineshopping nach „Murderabilia“ beginnt.
Vor allem kommt aber eine Gruppe oft maximal als Beiwerk vor: die Opfer. Die Darstellungen in den unterschiedlichsten Formaten folgen in der Regel den Erzählungen der Täter:innen. Opfer werden etwa in nachgestellten Gerichtsverhandlungen erneut bloßgestellt oder der genaue Tathergang nochmals aus Täter:innenperspektive gezeigt.
Die (fiktionale) Aufarbeitung für die breite Masse ist dabei nicht das Problem. Denn es gibt Beispiele, wie echte Kriminalfälle respektvoll erzählt werden können. Der Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ zum Beispiel, welcher sich auf die Opfer und ihre Hinterbliebenen des Terroranschlags konzentriert. Oder der norwegische Spielfilm „Utøya 22. Juli“, in dem fiktionale Figuren begleitet werden, welche auf den Geschichten der Opfer basiert. Dies habe sich laut Regisseur ethisch richtig angefühlt. Der rechtsextreme Täter wird maximal schemenhaft gezeigt.
Die Formate der vergangenen Jahre haben es geschafft, True Crime aus der Schmuddelecke herauszuholen und im Mainstream zu verankern. Am Ende erscheinen viele True Crime Formate aber nur wie die Klatschzeitungen an der Tanke mit einem etwas anderen Spin. Echte Tathergänge statt vermeintlicher Beziehungsprobleme. Mordwaffe statt Abnehmpille. Dessen muss man sich bewusst sein.
Wer noch nicht genug hat: Mit dem Thema True Crime und der Faszination Verbrechen hat sich auch eine Ausgabe des medien impuls der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM).
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