Berlin demonstriert gegen Krieg in Europa. Unser Kollege Luis Schneiderhan war bei einer Soli-Demo für die Ukraine. Ein Kommentar.
Es ist der 24. Februar 2022. Es ist zwei Uhr, ich komme gerade nach Hause, weil ich mit meinen Kommiliton:innen die letzte überstandene Klausur gefeiert habe. Das ist drei Stunden vor der Invasion.
Ich wache um zehn Uhr mit Kopfweh auf und starre schockiert in mein Handy. Es ist Krieg. Zu der Zeit läuft die Invasion bereits seit fünf Stunden. Ich bekomme Angst. Ich versuche mir vorzustellen, wie es für die Menschen vor Ort sein muss, zu Sirenen und Bomben aufzuwachen, oder wie es für Menschen hier in Deutschland sein muss, die um die Leben ihrer Angehörigen bangen müssen. Ich nehme eine Ibu und mache mich auf den Weg zur Soli-Demo für die Ukraine, die vor dem Bundeskanzleramt stattfindet. Ich habe von einer ukrainischen Freundin erfahren, dass dort seit 11 Uhr demonstriert wird. Die Aktivist:innengruppe nennt sich „Vitsche Berlin“ und ist auch auf Instagram zu finden, wo ihnen bereits mehr als 3400 Personen folgen. Wer ist diese Gruppe? Frage ich mich auf dem Weg in der S-Bahn – das möchte ich später herausfinden.
Als ich von der Richtung des Brandenburger Tors zum Bundeskanzleramt laufe, sehe ich bereits einige Menschen mit umgebundenen blau-gelben Fahnen. An der Straße stehen einige Menschen mit Schildern: „Stand with Ukraine“, „NATO help“, „Hands of Ukraine“ oder auch „Choke Putin“ ist zu lesen. Dazu rufen sie immer wieder: „Stop Putin, stop war.“
Direkt vor dem Kanzleramt ist ein kleines blaues Zelt mit zwei Lautsprecherboxen aufgestellt. Protestierende stehen darum versammelt und auch hier werden Forderungen gerufen: „Sanctions now!“ (Sanktionen jetzt!) oder „Waffen an die Ukraine.“
Ich spreche mit Xenia. Sie kommt aus Boryspil, eine Stadt mit ca. 65.000 Einwohnerinnen südostlich von der Hauptstadt Kiew. Auch hier gab es mehrere Bombardierungen. „Meiner Familie geht es zum Glück gut, aber die Wohnung meiner Mutter ist 20 Minuten vom Einschlagsort entfernt, wo heute bombardiert wurde.“ Ich frage sie, was sie gerade fühlt:
Ich fühle vor allem Wut, dass das alles passiert. Ich frage mich, wie ich arbeiten und studieren soll, ich kann mich derzeit auf nichts anderes konzentrieren.
Xenia
Ich treffe auch Hana, sie ist gebürtige Russin und sagt: „Ich kann nicht Zuhause bleiben, wenn mein Land ein Kriegsverbrecher ist.“ Auch in Russland selbst haben viele Bürger:innen gegen den Krieg demonstriert, in ungefähr 50 verschiedenen Städten. Und das trotz eines Verbots: mindestens 1700 Menschen wurden dabei festgenommen. Das zeigt: Der Krieg ist nicht Russlands Krieg, sondern allein der von Putin. Das denke ich, wissen auch die Demonstrierenden. Sie rufen: „Putin ist the killer“ (Putin ist der Mörder). Ab und zu werden auch Nachrichten verlesen, hauptsächlich schlechte, wie die Eroberung der Russen von Tschernobyl, aber die Nachrichten über die Proteste in Russland werden hier mit Applaus gefeiert.
Ich laufe näher zum kleinen blauen Zelt und treffe auf Maxim und Hanna. Sie sind zwei der insgesamt 15 Aktivist:innen, die die Soli-Demo für die Ukraine organisiert haben. Die meisten sind Studierende aus der Ukraine oder haben ukrainische Wurzeln, erklären sie. Zumindest alle haben Familie und Freunde in der Ukraine, die gerade extrem belastet sind. „Wir sind seit Ende Januar, seitdem die Lage in der Ukraine immer weiter eskaliert ist, auf die Straße gegangen.“, sagt Maxim. Zu Beginn seien sie nur ein loser Zusammenschluss von ukrainischen Studierenden gewesen, aber nach und nach wurde die Bewegung immer größer. Eigentlich, so erzählt mir Maxim, war auch geplant, ukrainische Kulturveranstaltungen zu organisieren. „Gerade ist der Aktivismus aber wichtiger.“, meint er. Maxim erzählt mir von den Forderungen der Demonstrierenden: „Wir fordern militärische Maßnahmen, noch härtere Sanktionen und auch Flüchtlingsarbeit.“ Im ganzen Land seien gerade Tausende von Menschen auf der Flucht.
Auch Maxim frage ich, was er gerade fühlt:
Es ist eine Abwechslung von Trauer und Aggression. Die Letzte Nacht war die fürchterlichste Nacht in meinem ganzen Leben.
Maxim, Mitorganisator der Demo
Aber, fügt er hinzu, der Aktivismus würde ihm helfen: „Die meisten hier anwesenden Menschen haben das gleiche Gefühl wie ich.“ Auch ich merke, wie hier eine ganz besondere Art von Zusammenhalt herrscht.
Die anwesenden singen die Ukrainische Nationalhymne und bekannte ukrainische Lieder. Menschen bringen Essen, Tee, Socken und Handschuhe zum kleinen blauen Zelt, weil die meisten Menschen mittlerweile schon mehrere Stunden in der Kälte stehen und Protestieren. Was mich am meisten berührt, ist die Situation, die ich im Folgenden beobachte: Eine Sprecherin und Organisatorin der Demo hat bereits eine ziemlich kratzige Stimme. Sie ist bereits seit früh morgens vor dem Kanzleramt, unter dem kleinen blauen Zelt und ruft Protestsprüche. Sie ist laut und energisch und versucht die Menschen zu animieren und zu motivieren noch lauter zu schreien, auch wenn sie fast nicht mehr können. Ab und zu gibt es die Möglichkeit bei einem Open-Mic auch andere Menschen sprechen zu lassen, die wollen. Das bedeutet eine kurze Pause für die Sprecherin und sie verlässt kurz das Zelt. Sie entdeckt eine Freundin und winkt ihr zu. Die beiden fallen sich in die Arme. Ganz lang. Beide schluchzen. Die Sprecherin wischt ihrer Freundin die Tränen aus dem Gesicht. Sie schauen sich lange einfach nur an. Ein deutscher Journalist spricht gerade darüber, dass Deutschland Putin zu lange unterstützt und unterschätzt haben. Als die die Open-Mic-Session vorbei ist, geht die Sprecherin zurück zum Zelt und macht weiter mit den Protestrufen.
Diese Kraft, die alle Demonstrierenden aufbringen, um sich für Gerechtigkeit einzusetzen, obwohl sie selbst aus den letzten Reserven schöpfen, zeugt von einer unglaublich großen Stärke. Eine Träne kullert mir die Wange hinunter. Es wirkt alles so surreal für mich. Menschen reden davon, wie gerade Soldat:innen ihr Leben riskieren und Europa beschützen. Es sterben nun Menschen und ich kann mir das alles nicht vorstellen. Gestern war mein größtes Problem die Klausur zu bestehen, heute ein Krieg.
Als es bereits dunkler wird, wird vor dem Zelt eine Kerze angezündet und weiße Rosen abgelegt. Sie sollen den Verstorbenen gedenken. Später ist eine weitere Versammlung vor dem Brandenburger Tor, das in gelb-blau leuchtet. Ein Aktivist teilt seine schreckliche Lage mit den anderen und ich bekomme Gänsehaut:
Heute morgen hat mir mein Onkel ´Ich liebe Dich´ geschrieben, seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.
Demonstrant vor dem Brandenburger Tor
Ich verlasse die Demo mit einem mulmigen Gefühl. Die Demonstrierenden werden morgen wieder an der gleichen Stelle stehen und laut sein. Es ist das Einzige, das sie derzeit tun können, um sich für ihre Familie und Freund:innen einzusetzen. Eine weitere Demonstrantin sagt zu mir: „Ich könnte nicht Zuhause sitzen, sonst würde ich durchdrehen.“ Und das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum die Menschen hier sind: Um der Ohnmacht und Willkür zu entfliehen. Und das werden sie auch morgen wieder tun. Denn sie geben die Hoffnung nicht auf.
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