Wie lebt es sich ohne Handy? Was passiert mit unserem Sozialleben, wenn wir unseren Taschencomputer verlieren und die Verbindung zu Social-Media kappen? ALEX-Autor Noé Leeker berichtet von seinem Digital Detox (light).
Smartphones sind Fluch und Segen zugleich. Hinter dieser Plattitüde verbirgt sich ein echtes Problem: Social-Media kann unsere mentalen Gesundheit schädigen. Die ständige Erreichbarkeit ist eine Überforderung für viele. „Der Mensch ist dafür nicht gemacht“, sagt auch die Psychologin PD Dr. Julia Brailovskaia von der Ruhr-Universität Bochum, die ich für diesen Artikel interviewen konnte. Sie hat eine Studie über den Sweet Spot, also dem optimalen Bereich, der Handynutzung geleitet und sieht insbesondere soziale Medien als Gefahr für unser Wohlbefinden. Mehr dazu weiter unten. Aber vorher muss eine drängende Frage geklärt werden: Warum lebt der Autor dieses Artikels über Wochen ohne sein Smartphone?
So gut wie alle Berliner:innen kennen das Phänomen. Du steigst, in freudiger Erwartung auf das eigene Bettchen, zu später Stunde in die Ringbahn. Nur für einen ganz kurzen Moment schließt du die Augen und wachst vollkommen verwirrt auf. Warum bin ich ungefähr da, wo ich eingestiegen bin? Wer hat die anderen Fahrgäste ausgetauscht? Was ist in der letzten Stunde passiert? Zum Glück ist das Einzige, was normalerweise fehlt, eine gute Stunde Lebenszeit.
Leider musste ich an einer Freitagnacht im Mai eine andere Erfahrung machen und als ich aufwachte, war mein Handy weg. Der Beginn meiner handylosen Zeit war also denkbar missmutig und den Rest meines Heimweges verbrachte ich in tiefem Groll auf den anonymen Dieb. Dieser legte sich aber recht schnell, als ich am nächsten Morgen merkte, dass ich noch per Laptop mit allen gängigen Messanger- und Social-Media Plattformen verbunden war.
Meine Erfahrung in den drei Wochen war also eine Art Digital Detox Light. Die Reduktion des digitalen Daseins beschränkte sich auf Zeit, die ich draußen Verbrachte. Außerdem bekam ich relativ bald ein funktionsfähiges, aber eben nicht auf mich personalisiertes Ersatzhandy. Trotzdem fiel mir in den knapp drei Wochen einiges an mir selbst und meiner Umwelt auf.
Zunächst ist das Leben ohne Smartphone beschwerlicher. Spontane Treffen mit Freund:innen sind kaum möglich - auch mit Ersatzhandy. Nummern müssen ganz altmodisch auf Zettel geschrieben und, in den ersten Tagen, zum Telefonieren sogar fremde Menschen (!) nach ihrem Handy gefragt werden. Ungewohnt, aber so entstanden nette Gespräche zwischen Zug und Bahnsteigkante. Generell bewege ich mich mit offeneren Augen durch die Stadt.
Un-abgelenkt durch Social-Media bemerke ich ein ausgesprochen gut gekleidetes älteres Paar, welches ich am selben Tag gleich zweimal in der U7 treffe. Die Fahrt mit der Ringbahn wird zum Graffiti-Showreel. Auf Laufwegen durch die verschiedensten Ecken Berlins nehme ich die Eigenheiten meiner Heimatstadt viel intensiver wahr und das Navigieren zu neuen Zielen führt zu einem echten Lerneffekt, da ich mich nicht alle fünf Minuten vergewissern kann, auf dem richtigen Weg zu sein.
Trotzdem ist es umständlicher, seine Tage zu planen und von A nach B zu kommen. Positive und negative Effekte des handylosen Lebens wechseln sich ab. Auch Psychologin Julia Brailovskaia, beurteilt den Effekt von Smartphone-Nutzung durchaus ambivalent: „Wenn ich mein Smartphone als Navigator nutze, um ein Rezept rauszusuchen oder mit jemandem zu telefonieren, ist das ein positiver Einfluss. […] Aber wenn wir es nutzen, um durch Soziale Medien der Realität zu entfliehen, dann ist der Einfluss negativ“
Social-Media ist hier das entscheidende Schlagwort. Brailovskaia zufolge macht die Nutzung nicht nur auf Dauer unglücklich, sondern kann sogar suchtartige Symptome hervorrufen. Sucht-artig sagt sie deshalb, weil für die Abhängigkeit von Social-Media noch keine standardisierte Diagnose existiert. Trotzdem beobachten Psycholog:innen gängige Entzugssymptome. Julia Brailovskaia zählt einige auf: „psychisches und körperliches Unbehagen, Unwohlsein, Ängstlichkeit vor dem Verlust des Zugangs, Rückfälle […], interpersonelle Konflikte mit der Außenwelt aufgrund der intensiven Nutzung und das ständige Nachdenken über die Nutzung von Social Media.“
Auch ich hatte morgens Schwierigkeiten dabei, mich von den auf dem Laptop geöffnet Social-Media Apps zu lösen. Versucht ihr mal euer Handy aus der Hand zu legen, mit der Aussicht, sich bis zum Abend von Reels, Tweets und Nachrichten zu verabschieden! Aber die Tage ohne ständigen Input waren durchaus schön. Berlin im Frühling hat einen wundervollen, hellgrün-wuchernden Charme und die Zeit mit Freund:innen war mehr pur. Und auch wenn manchmal kurz nach dem Verlassen meiner Wohnung umkehren musste, um vergessene Nummern aufzuschreiben, außer gelegentlichen Verspätungen bei der Arbeit bemerkte ich vor allem positives.
So habe ich während meines Digital Detox light unbewusst einiges richtig gemacht. Julia Brailovskaia rät dazu, sich einen klaren Plan zu machen, welche Aktivitäten anstelle der Nutzung von Social-Media durchgeführt werden. Likes und Shares von Follower:innen sorgen für die Ausschüttung von Dopamin und der Menschen braucht diese positiven Emotionen, so die Psychologin. Deshalb sei es wichtig Alternativen zu finden: „Da können wirklich die unterschiedlichsten Dinge funktionieren: ein Buch lesen, Musik hören, durch den Wald laufen, mit Anderen irgendetwas tolles Unternehmen.“
Bei ihren Studien zum Sweet Spot der Smartphone- und Social-Media-Nutzung hat Brailovskaia herausgefunden, dass es gar nicht nötig ist, einen vollständigen Detox zu machen. Das sei sogar weniger empfehlenswert und könne zum sogenannten JoJo-Effekt führen. So könne bereits eine Stunde weniger pro Tag vor dem Smartphone einen positiven Effekt auf die psychische Gesundheit haben, resümiert Brailovskaia die Ergebnisse ihrer Studie. Bei Social-Media sei bereits eine Reduktion um eine halbe Stunde pro Tag genug, um Verbesserungen des Wohlbefindens hervorzurufen. Allerdings, so die Psychologin, sei es kaum möglich einen allgemeinen Sweet Spot zu finden. Es sei ohnehin wichtiger, „dass man sich bewusst macht, welchen Effekt Social-Media haben kann und dann bewusster nutzt.“
Dazu können bekannte Tracking-Apps ein Anfang sein. Diese verfolgen die Nutzungszeiten und weisen User:innen auf die täglich z.B. auf Instagram oder TikTok verbrachte Zeit hin. Auch das Sperren von Social-Media Anwendungen ist möglich. Julia Brailovskaia empfiehlt außerdem eine eher analoge Methode: Das Handy in eine verschließbare Box legen, abschließen und sich der offline-Welt widmen. Als ich ihr von meiner Erfahrung erzähle, muss sie Lächeln. Unbewusst habe ich viele ihrer Tipps umgesetzt und das Handy nur für ‚gute‘ Tätigkeiten genutzt. Deshalb möchte ich diesen Artikel mit einer Empfehlung beenden.
Natürlich sollt ihr nicht in der Ringbahn einpennen und euch euer Smartphone klauen lassen. Aber für ein paar Wochen alle Social-Media Apps löschen oder ein altes Tastenhandy benutzen, ist eine gute Idee. Wer es nicht ohne Social-Media aushält, loggt sich auf dem Laptop ein. So reduziert ihr die tägliche Smartphone- und Social-Media-Nutzung locker um eine Stunde und erlebt eure Stadt mit offeneren Augen!
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