Das Afrikanische Viertel in Berlin-Wedding steckt noch tief im Kolonialismus. Straßenschilder erinnern an Kolonialherren und viele konservative Anwohner:innen halten am kolonialen Erbe fest. Unser Autor EJ Summers hat sich vor Ort ein Bild gemacht und teilt seine Erfahrungen.
Die vorherige Version des Artikels hatte fehlerhafte Informationen zu den Personen Justice Mvemba und Carl Peters. Diese wurden am 29.09.2022 korrigiert. Es wurden zudem inhaltliche Ergänzungen zu Gustav Nachtigal, sowie einem Zitat von Justice Mvemba vorgenommen.
Ich habe viel über Berlin gehört, bevor ich überhaupt das erste Mal dort war. Ein Ort für Lesben und Schwule, für Queere Menschen und Menschen, die auch außerhalb gesellschaftlicher Konventionen glücklich sein wollen. Ich bin zur Hälfte Deutsch und zur Hälfte Native American mit afrikanischen Wurzeln und komme aus dem tiefsten Franken in Bayern, wo es deutscher nicht sein könnte. Es gibt viel Schäuferle, Kloß mit Soß und im Sommer bestimmen am Wochenende die Kerwas (Kirchweihfeste) das Leben. Deswegen habe ich mich auf eine so bunte Stadt wie Berlin gefreut.
Ich wohne erst seit wenigen Wochen in Berlin und bin zufällig auf das Afrikanische Viertel in Wedding gestoßen. Als ich das erste Mal den Namen hörte, dachte ich an lebendig gelebte afrikanische Kultur, mit Vereinen, Restaurants und vielen BIPoC Bewohner:innen. Doch ich wurde schon bei der ersten Recherche enttäuscht. Das Viertel wurde 1899 von dem Hamburger Tierparkbesitzer Carl Hagenbeck mit der Intention gegründet, das Gelände rund um den Volkspark Rehberge in einen exotischen Park zu verwandeln. Es sollten dort unter anderem afrikanische Tiere und Menschen ausgestellt werden.
Ich möchte mir ein eigenes Bild vom Afrikanischen Viertel machen und nehme an der dekolonialen Stadtführung von Justice Mvemba teil. Ich steige aus der U-Bahn-Station Afrikanische Straße aus und stehe mittendrin. Statt Kulturverein und Sudanesischem Restaurant begrüßen mich Steakhouse Gaucho und die Muggelbude (Eine alte Kneipe). Mein erster Eindruck wird von einer Gruppe Männer mit Bier und Kippe abgerundet- es ist 11 Uhr am Morgen.
Treffpunkt ist am U-Bahnhof Afrikanische Straße, Ecke Müllerstraße. Stadtführerin Justice ist Lebensfreude ins Gesicht geschrieben. Ihr breites Lächeln zieht die Menschen mit und steckt jeden in unserer kleinen Gruppe an. Justice ist im Kongo geboren und wuchs in einem Dorf bei Freiburg auf. Dort waren sie und ihre Familie die einzigen afrikanischen Personen im Ort. Auch sie hoffte im Afrikanischen Viertel eine lebendige afrikanische Kultur mitten im Schmelztiegel Berlin zu finden. Justice sah das Viertel vor sieben Jahren zum ersten Mal und war wie ich enttäuscht und wütend.
Wie kann es sein, dass in einer so heterogenen Stadt wie Berlin, ein Viertel im Kolonialismus feststeckt? In den nächsten 2 Stunden führt mich Justice durch Berlins dunkles koloniales Erbe, das nur wenig mit dem Bild der weltoffenen und woken Weltstadt zu tun hat.
Der erste Stopp ist die Kleingartenkolonie Klein-Afrika. In einem Viertel, in dem es von Kolonialismus nur so trieft, fühlt sich der Gartenverein wohl. 2019 war eine Mehrheit der Mitglieder Klein-Afrikas gegen die Umbenennung von drei Straßen im Afrikanischen Viertel. Ich für meinen Teil würde lieber einen neuen Straßennamen lernen, anstatt mit Kolonialverbrechern in Verbindung gebracht zu werden. Auch wenn der Verein die damaligen Ansichten nicht vertritt, schwingen doch die Taten Deutscher Kolonialverbrecher im gleichen Atemzug mit – verstärkt durch den eingängigen Namen des Kleingartenvereins. Geht es nach den Kleingärtnern, sollte umgewidmet statt umbenannt werden. Mit dem Argument Geschichte aufarbeiten, statt abzuschaffen halten sie an kolonialem Erbe fest. Bereits 1986 scheiterte eine Umbenennung. Die Petersallee heißt weiterhin Petersallee - gemeint ist nun aber ein anderer.
Die Kleingartenkolonie Klein Afrika. Überklebt mit einem Sticker auf dem steht: Refugees Welcome.
Bereits 1939 benannten die Nationalsozialisten die Straße im Berliner Norden „Petersallee“. Als Namensgeber diente Reichskommissar Carl Peters. In die Geschichte ging er auch als berüchtigter Vergewaltiger, Mörder und Rassist ein. Er erhielt den Spitznamen „Hängepeters", weil er einen Fluchtversuch von „seinem“ schwarzen Dienstmädchen (die er regelmäßig vergewaltigte) bestrafte, indem er sie und ihren Helfer erhängen ließ.[1]
Auch die Stadt Berlin hatte gegen eine Straße, benannt nach einem Rassisten, keine Argumente. Aus Carl Peters wurde Hans Peters, ein CDU-Politiker und NS-Widerständler.
Einem CDU-Politiker, der gegen das NS-Regime war. Da hatte Berlin Glück, dass es einen guten Peters zu jener Zeit gab. Problem gelöst. Die Stadt ignorierte, dass der Kontext von Petersallee im Afrikanischen Viertel natürlich blieb und sie auch hier einen weißen Politiker als Namensgeber nutzten. Ob das mit Kostengründen zu tun hatte? Auf jeden Fall war damit weniger Bürokratie nötig.
Aber so betreibt man keine Aufklärung. Dieses Problem ist in Berlin immer noch vorhanden. Ende 2022 sollen laut dem Bezirksamt Mitte die Straßenschilder ausgetauscht werden. Die Umbenennung ist schon seit 2018 beschlossen, es gab jedoch etliche Klagen, die eine Umsetzung verzögerten. Die Petersallee heißt dann Anna-Mungunda-Allee, beziehungsweise Maji-Maji-Allee (Die Straße wird aufgeteilt).
Das Humboldtforum beispielsweise gibt sich als „Ein Ort für Kultur und Wissenschaft, des Austauschs, der Diversität und Vielstimmigkeit. Ein Ort, der Unterschiede verbindet.“[2] Schon das Erscheinungsbild vermittelt andere Wertevorstellungen.
2021 eröffnete das Humboldtforum im neu erbauten Stadtschloss Berlin. Kolonialkunst mit Herkunftsforschung im monarchistischen Prunkbau. Der Verein Decolonize Berlin demonstrierte davor mit der Kritik: „Das Museum stellt koloniales Raubgut zur Schau.“[3] Das Forum stimmte einer substanziellen Rückgabe zu, allerdings keiner vollständigen. Die Benin-Bronzen vom damaligen Benin Königreich (ca. 1440- 1897) beispielsweise, wurden jetzt größtenteils an den Staat Nigeria zurückgegeben. Zumindest ein Großteil. Einige Exemplare darf das Humboldtforum bis 2032 behalten – offiziell als Leihe. Diese Artefakte sind ursprünglich Teil afrikanischer Rituale und Traditionen aber der Prunkbau in der Berliner Mitte hat selbstverständlich Recht darauf, sie auszustellen – Ich hoffe mein Sarkasmus ist merklich geworden.
Gewaltvoll angeeignete Objekte sind auf ihrer Website MUST-SEES.[4] Es überrascht mich nicht. Das Humboldtforum gehört zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die sich zur Aufgabe gesetzt haben „das anvertraute Kulturerbe“[5] Preußens zu wahren und dadurch eine Anziehungskraft, die über Deutschland hinaus geht, zu schaffen.
Auf meiner Erkundungstour durch das Afrikanische Viertel ist mein nächster Stopp der Nachtigalplatz. Gustav Nachtigal war Afrikaforscher und Reichskommissar in Westafrika, dem heutigen Kamerun, Togo und Namibia. [8] Als Kolonialverbrecher zwang er Afrikaner:innen mit Hilfe von Gewalt und Geiselnahmen zu Vertragsabschlüssen. [9]
Trauerbeflaggung auf dem Nachtigalplatz
In der Mitte des Platzes ist eine Fahne auf Halbmast – Eine Trauerbeflaggung. Die Fahne ist nicht vollständig, denn das untere Stück steht im Humboldtforum. Die Idee stammt von einem asiatischen Künstler. Justice kritisiert, dass kein:e afrikanische:r Künstler:in, beziehungsweise keine afrikanische Initiative involviert war.
Ich persönlich finde die Intention der Flagge nicht schlecht, dennoch ist die Ausführung mangelhaft. Die Kunstaktion sollte meiner Meinung nicht im Humboldtforum beginnen und lieber an einem pro-afrikanischen Ort enden.
Der Nachtigalplatz soll Ende 2022 in Manga-Bell-Platz umbenannt werden.
König Rudolf Douala Manga Bell wurde 1914 durch deutsche Soldaten in seinem Heimatort Douala hingerichtet, nachdem er und seine Frau sich gegen die Landenteignungspolitik der deutschen Besatzer in Kamerun auflehnten.
Ein trauriges Highlight der Tour ist der Dauer-Kleingartenverein TOGO e.V. Auf dem Vereinsschild lese ich: Gegründet 1939. Bis in die 1980er Jahre hieß der Verein noch Dauerkolonie TOGO e.V., 66 Tausend Quadratmeter groß ist die Anlage. Und darauf zu sehen: Nur weiße Familien. Als wir vorbeilaufen werden wir skeptisch beäugt. Wie ein Eindringling in ihrem Garten Eden komme ich mir vor. Justice erzählt, dass im gesamten Viertel meist konservative Menschen wohnen.
Der Eingang zum Dauer-Kleingartenverein "TOGO"e.V.
Über 200 Klagen gab es gegen die Umbenennung der Petersallee, dem Nachtigalplatz und der Lüderitzstraße. Letzteres ist auch der letzte Stopp der Tour. Adolf Lüderitz kaufte in Südwestafrika Land im Umkreis von fünf Meilen von dem Nama-Häuptling Josef Frederiks II. und soll dem Stamm 200 Pfund und 20 Gewehre dafür gegeben haben. Die Krux: Lüderitz behauptete im Nachhinein, er meinte nicht englischen Meilen (Eine Meile = 1,6 Kilometer), sondern preußische Meilen (Eine Meile = 7,5 Kilometer). Danach bekam er den Spitznamen Lügenfritz. [10]
Kolonialgegner übermalten in der Vergangenheit immer wieder die Straßennamen.
Das bemalte Lüderitz-Schild.
Ein Schild an einer Hauswand ist übermalt und ich möchte ein Foto machen. Doch bevor ich mein Handy rausholen kann, spricht mich ein wahrscheinlich Mitte 40, Anfang 50 Jahre alter weißer Mann an und sagt: „Da schau was die Möchtegern-Aktivisten wieder gemacht haben.“ Bevor ich antworten kann, verschwindet er hinter der nächsten Ecke. Ich hätte ihn gerne gefragt, wie er so ignorant und unreflektiert durchs Leben gehen kann. Leute wie er sollten beim Lern- und Erinnerungsort Afrikanisches Viertel (LEO) vorbeischauen. Dort findet man umfassende Informationen in Text und Audio zum Afrikanischen Viertel.
Die Lüderitzstraße soll Ende 2022 in Cornelius-Fredericks-Straße umbenannt werden. Cornelius Fredericks führte 1904 den Widerstandskrieg der Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutige Namibia, an.[11] Er starb drei Jahre später im berüchtigten Gefangenenlager auf der Haifischinsel bei dem nach Adolf Lüderitz benannten Ort ‚Lüderitz‘ im Süden des heutigen Namibias
In den knapp zwei Stunden sind noch viel mehr Sachen passiert aber die Stimmung war überall gleich: absurd. Es ist absurd an einem Ort zu sein, an dem vor knapp 120 Jahren ein Menschen-Zoo entstehen sollte. Es ist absurd, dass so viele Dinge noch immer an diese schreckliche Zeit erinnern.
Bei mir schwingt – neben Wut – auch eine gewisse Traurigkeit mit. Ich kann es nicht nachvollziehen, wie eine so bunte und schöne Stadt wie Berlin, so ein schwarz-weiß Denken an den Tag legen kann. Auch außerhalb vom Afrikanischen Viertel gibt es einiges, dass Berlin in Sachen kolonialer Aufarbeitung verbessern muss. Die Bedürfnisse von Betroffenen müssen mehr berücksichtigt werden. Politiker:innen und Institutionen täten gut daran mehr hinzuhören und weniger ihre eigenen Interessen in den Vordergrund zu rücken. Wir als Gesellschaft sollten öfters den Ich-Gedanken, mit einem Wir-Gedanken austauschen. Each One Teach One e.V. verfolgt genau diesen Gedanken. Sie setzen sich für Empowerment innerhalb von schwarzen Familien und Gemeinschaften ein. Zudem führt der Verein eine Bibliothek, in der nur Literatur von Afrikanischen, Afrodiasporischen und Schwarzen Autor:innen ist. Die Bibliothek ist offen für jeden, der sich weiterbilden möchte. Ganz egal woher er oder sie kommt.
Mir hat die Tour sehr viel gebracht. Es ist ein Unterschied nur darüber zu lesen oder wirklich vor Ort zu sein. Ich kann jedem Menschen empfehlen die dekoloniale Stadtführung von Justice Mvemba mindestens einmal im Leben gemacht zu haben. Der Kolonialismus ist immer noch ein Riesenthema in Berlin und die Tour durch das Afrikanische Viertel ist ein guter Startpunkt um sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzten.
Justice Mvemba und ihre Mitarbeiter:innen führen jeden Samstag und Sonntag durch das Viertel. Jeweils um 11 Uhr ist die Führung auf Deutsch und um 14 Uhr auf Englisch.
Treffpunkt ist U-Bahnhof-Afrikanische Straße, Ecke Müllerstraße. Die circa zweistündige Führung kostet 25 Euro pro Person.
Im Jahr 2022 finden Tours nur noch im Oktober statt.
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