Die deutsche Hauptstadt wird oft und gerne kritisiert. Nicht selten schlägt berechtigte Kritik an chaotischen Verhältnissen in hemmungsloses Berlin-Bashing um. Das Thema ist für die Berliner:innen so relevant, dass selbst das offizielle Hauptstadtportal einen Artikel zum Thema bereithält. Aber wer basht hier eigentlich und warum? Ein Kommentar von Noé Leeker.
Nach dem goldenen Oktober mit seinem frühlingshaften Wetter, das heutzutage weit in den November hineinreicht, leuchtet bereits die Weihnachtszeit am Horizont. Sind die Festtage geschafft, taumelt Berlin zwischen Foodkoma und Versaufen dem Silvesterabend entgegen. Während die meisten an Neujahr noch betäubt sind, stellt sich spätestens mit der Wiederaufnahme der Lohnarbeit die traurige Gewissheit ein: Der Winter ist noch lange nicht vorbei. Das immerwährende Einheitsgrau wird zum Endgegner im Kampf gegen die Winterdepression.
Deshalb sind Januar und Februar mit Abstand die schlimmsten Monate in der Hauptstadt. Im Jahr 2023 trifft diese Feststellung nicht nur auf die Berliner:innen zu, sondern auch für das Image ihrer Stadt. Kaum haben sich die Rauschwaden der Silvesternacht verzogen, wird über die Vornamen von „kleinen Paschas“ diskutiert. Ist man (als Deutscher) hier noch sicher? Kapituliert der Rechtsstaat vor dem Problembezirk? Diese Verklausulierungen von „Migrationskritik“ bildeten den Einstieg in den Wiederholungswahlkampf.
Und am 12. Februar war es dann so weit. Eine der teuersten Wahlen der Stadtgeschichte verlief (fast) pannenfrei und brachte die Law-and-Order-Partei CDU als strahlenden Sieger hervor - mit kräftigem Rückenwind durch die Silvester- und Wahlberichterstattung. Kaum ein größeres Medienhaus kam ohne Kommentar zu den archaischen Zuständen in der Hauptstadt aus. Was überregional für besondere Belustigung sorgte, war die Frage nach der Entsendung von Wahlbeobachter:innen der OSZE in die Bananenrepublik Berlin.
„Berlin – knapp vor Südossetien“ titelte beispielsweise der Münchner Merkur. Tatsächlich führte die OSZE eine sogenannte Needs Assesment Mission (NAM) in der Bundeshauptstadt durch. Bei den sogenannten NAMs reisen OSZE-Vertreter:innen in die Mitgliedsstaaten, um das Umfeld sowie die Vorbereitungen einer Wahl zu bewerten. Davon ausgehend wird entscheiden, ob eine Wahlbeobachtungsmission nötig ist. In Berlin war das nicht der Fall und der Abschlussbericht bescheinigt "große Zuversicht für einen reibungslosen Verlauf". Dass Berlin damit eher auf einer Stufe mit bekannten Schurkenstaaten wie Norwegen oder den Niederlanden steht, blendete die Münchner Tageszeitung im Kommentar aus - klingt auch weniger spektakulär.
Die besonders bissige Berlin-Kritik aus der bayerischen Landeshauptstadt kann historisch eingeordnet werden. Seitdem Berlin politisches Zentrum des deutschen Kaiserreiches wurde, blickt man im Freistaat mit Argwohn auf die Spree-Metropole. Die Bayern und die Preußen mögen sich nicht!
Auf ähnliche Weise ordnet auch Christan Tänzler Berlin-Bashing als „fast traditionelles“ Phänomen ein. Er ist Pressesprecher der Tourismusagentur visitBerlin und vermarktet die Stadt an nationale und internationale Tourist:innen. Auch er verweist auf die historische Rivalität zwischen Bayern und Preußen. Berlin-Bashing sei für seine Arbeit, wenn überhaupt, auf nationaler Ebene relevant: „Das ist in der Tat ein deutsches Problem.“ Dennoch muss auch Tänzler eingestehen, dass ihm die Ereignisse der Silvesternacht Kopfschmerzen bereiten:
„Wenn aber natürlich Bilder um die Welt gehen, in denen Berlin als Hort der Kriminalität oder der Gewalt erscheint, dann ist das sehr, sehr negativ für uns. Auf der einen Seite für den Tourismus. Auf der anderen Seite ist Berlin als Metropole auch bei jungen Arbeitnehmern:innen, Nachwuchskräften und kreativen Leuten beliebt. Solche Bilder könnten sie abschrecken."
Trotzdem sei Berlin ein echtes Sehnsuchtsziel. Die Stadt gelte im internationalen Vergleich als sicher und offen, so Tänzler. Auch der ÖPNV ist hochgelobt und ermögliche Mobilität nicht nur innerhalb der Stadt: „Der urbane Raum ist verknüpft mit über 3000 Seen im Umland.“ Außerdem biete die Stadt ein einzigartiges Lebensgefühl in stark ausdifferenzierten Kiezen. „Die Kultur und Subkultur Berlins sind einmalig“ sagt Tänzler mit dem Verweis auf die große Vielfalt der hiesigen Kulturlandschaft. Egal ob Mode, Nachhaltigkeit, Gastronomie oder Nachtleben: „Berlin ist ein Schaufenster Deutschlands.“
Zur Einordnung: Tänzler spricht hier in seiner Funktion als Pressesprecher einer Tourismusagentur. Berlin-besuchende brauchen weder einen Bürgeramtstermin, noch kuscheln sie mit hunderten Mitinteressierten bei der Wohnungsbesichtigung. Verwaltungschaos, organisierte nicht-Zuständigkeit oder die Verdrängung unterer Einkommensschichten durch einen immer absurderen Wohnungsmarkt sind Probleme, die nicht ignoriert werden dürfen. Aber sie betreffen wohl kaum die Zielgruppe von Tänzler. Genauso wenig müssen sich die größten Kritiker:innen Berlins darum sorgen.
Aber warum dann diese vehemente Kritik? Wieder hilft ein Blick in die Geschichte. Als Berlin in den goldenen 20ern zur Weltstadt avancierte, waren Städte wie Köln, München oder Hamburg lang etablierte Zentren. Die waren bereits Metropole, da war Berlin noch Käse im Schaufenster. So galt die Stadt als Emporkömmling des preußisch dominierten Kaiserreiches, als Günstling und Nutznießer. Auch ihre Weltgewandtheit machte misstrauisch, so schreibt David C. Large in seiner Berlin-Biografie:
„[D]as erklärtermaßen kosmopolitische Selbstverständnis […] bestärkte die Provinzen geradezu in dem seit langem gehegten Verdacht, Berlin gehöre mehr zu Welt als zu Deutschland“
Diese Sorge besteht bis heute fort. Und ich höre es von den meisten zugezogenen Freund:innen. Berlin ist irgendwie anders als der Rest von Deutschland. Die Stadt ist eben kein Schaufenster der Bundesrepublik, sondern ein ganz eigener Kosmos mit spezifischen Regeln und Brüchen. Aber in seiner Funktion als Kapitale kommt die Stadt nicht um diese Rolle herum. So lese ich in jedem Artikel zu Silvester und der Wahl den Ausruf „Berlin?! So sind wir nicht!“ Und es stimmt.
Nun ist es März. Die schlimmsten Monate sind vorbei und bald schon zeigen sich die ersten Blätterknospen – In Berlin und dem Rest der Bundesrepublik. Immerhin klimatisch sind die ungeliebte Hauptstadt und ihre Provinzen also auf einem Level.
Ganz im Zeichen des herannahenden Frühlings soll auch dieser Artikel versöhnlich enden. Mit einem Vorschlag, der die Wogen glättet und uns die Kosten einer Rückverlegung der Bundeshauptstadt ins beschauliche Bonn erspart: Vielleicht würde schon ein Disclaimer am Ortsschild helfen, dass sich der Rest des Landes weniger vom produktiven Chaos ihrer ungeliebten Hauptstadt belästigt fühlt.
Text & Bilder: Noé Leeker
Titelbild: Cora Schäfer
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