Was ist Heimat? Die „Daughters and Sons of Gastarbeiters“ leisten mit ihren Geschichten einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur.
An einem Wintertag in Berlin werden die lang ersehnten Ergebnisse der GroKo-Verhandlungen preisgegeben. Was wir unter anderem erfahren: Horst Seehofer wird nicht nur zukünftiger Innenminister, sondern auch Heimatminister sein. Genau, Heimat. Dass dieses Wort, gemeinsam mit der ebenso unbeliebten „Leitkultur“, im politischen Kontext dieser Tage prompt auf immense Gegenwehr in den sozialen Medien stößt, zeigt: Was genau Heimat eigentlich ist, spaltet weiterhin die Gemüter.
Wie gut, dass an demselben Tag, an dem das Heimatministerium ausgerufen wird, die „Daughters and Sons of Gastarbeiter“ in der Heinrich-Böll-Stiftung lesen und den Begriff Heimat in seiner berechtigten Vielfalt zeigen. Das Autorenkollektiv „Daughters and Sons of Gastarbeiters“ besteht mittlerweile aus 30 Mitgliedern, die ihre Zuwanderungsgeschichte vereint. Diese Geschichten präsent zu machen und ihre Zugehörigkeit zur deutschen Geschichte und zum deutschen Selbstverständnis zu markieren, das haben sich diese Autor*innen zur wichtigen Aufgabe gemacht. Fünf verschiedene Geschichten zeigen: Hinter der oft als grauen Masse stigmatisierten Einwanderungs-„Welle“ stecken Menschen mit Erlebnissen, die jede für sich Stoff für einen Roman oder einen Film bieten. Schillernd, lustig, traurig.
Da ist zum Beispiel Ibrahim, Vater von Çiçek Bacik , der 1973 aus einem türkischen Dorf nach Bruchsal kam und dessen größter Wunsch es war, einen roten Traktor zu kaufen. Oder László Farkas, Großvater von Wolfgang Farkas, der als Opernsänger 1944 aus Ungarn floh und mit seiner Frau Maria die Vorliebe für Weißwürste teilte. Schließlich sind da noch Ok-Hee Jeong, deren süd-koreanische Eltern ihr aus Frankfurt bunte Schuhe schickten, Zoran Terzić, der von dem fränkischen Dorf Kirchenlamitz erzählt, wo ein rotes Rathaus für Aufregung sorgte und Shlomit Tulgan, deren türkische Eltern überzeugte Kommunisten und Atheisten waren und dann doch zum Buddhismus konvertierten.
Zwischen den Geschichten bekommt das Publikum Filmausschnitte zu sehen, die ein Licht auf die Berliner Einwanderungsgeschichte werfen. Wir hören eine Fischverkäuferin, die den Laden von einem deutschen Besitzer übernahm und das sehr unterhaltsame Interview mit einem Frisör, der es bedauert keine John Travolta Frisuren mehr schneiden zu dürfen. Der Abend bietet ein Wechselbad der Gefühle.
„Vor zwei Jahren kam eine deutsche Frau auf mich zu, hat sich bedankt hat und meinte: Ja genauso war das in den 70er Jahren, so wie sie das beschreiben. Sie hat mich umarmt und geweint“, erzählt Çiçek Bacik. Viele Einwanderer, die zu den Lesungen kommen, seien aufgelöst und manche sogar motiviert, ihre Geschichten aufzuschreiben, wie ein junger Mann, der aus der Geschichte seiner Großmutter nun einen halben Roman geschrieben habe.
Was sie zum Begriff Heimat zu sagen hat? „In meiner Gruppe gibt es unterschiedliche Auffassungen von Heimat. Einige sagen, Heimat und Heimatgefühle rufen Ressentiments hervor, andere wiederum sagen, dieses Gefühl von Heimat ist wichtig und zu dieser Kategorie gehöre ich. Man kann sich überall beheimatet fühlen.“ Oder um es mit den Worten aus der Geschichte von Wolfgang Farkas zu beschreiben: „Heimat ist eine Melodie, die man gedankenverloren vor sich hin summt.“
Die nächste Lesung am 14.3 in Osnabrück statt.
Text/Fotos: Schahrzad Zamankhan
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